Der wiedergefundene Klang

von Mathias Weber

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Wir schreiben den Februar des Jahres 1858: Richard Wagner besucht während seines Paris-Aufenthaltes den Salon der Witwe des Klavierbauers Pierre Erard und ist vom Klang eines der dortigen Instrumente derart begeistert, dass er all seine Eloquenz aufbringt, um Madame Erard davon zu überzeugen, ihm diesen Konzertflügel (2,48 m Länge, Fabrikationsnummer 30320) als Geschenk zu überlassen. Dessen Eintreffen in Zürich begrüßt Wagner als wichtige, ja geradezu entscheidende Inspirationsquelle zur Komposition des zweiten Aktes seines epochalen Werkes Tristan und Isolde.
Lassen wir den Komponisten selbst sprechen: „Der neue Flügel schmeichelte meiner musikalischen Empfindung ungemein, und ganz von selbst geriet ich beim Phantasieren auf die weichen Nachtklänge des zweiten Aktes vom Tristan…“

Was aber macht den romantischen Klangzauber eines Erards aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts aus? Da muss zunächst einmal die Rede von der durchgängig parallelsaitigen Bespannung sein, die mit einer für moderne Ohren des 21. Jahrhunderts geradezu bestürzenden Klarheit und Fokussierung der Basstöne überzeugt. Daraus folgend ergibt sich ein völlig natürlicher und entspannter Obertonaufbau, der eine vollkommen organische Bindung des Diskants an das Klangfundament ermöglicht: Eine perfekt gebaute „Klangpyramide“! Solch eine Klangcharakteristik eignet sich hervorragend für die sich aus dem Generalbasszeitalter herleitende klassische Musik und insbesondere für die durch schillernde wie differenzierte Harmonik geprägten Klanggebilde der Romantik. Das Fehlen einiger Konstruktionsmerkmale des modernen Konzertflügels wie die öfters angemerkte Schwäche des Diskants sowie das etwas geringere auf orgelähnliches Pathos verzichtende Volumen der Basstöne, können aus dem oben genannten Gesichtswinkel nur als Vorteile gelten, ist eine quasi authentische Interpretation gewünscht. Die Ästhetik eines schlanken und doch tragenden modulationsfähigen Tons erlaubt eine Durchsichtigkeit des musikalischen Liniengewebes, das auf modernen Instrumenten in diesem Ausmaß nicht möglich ist. Freilich: Den riesigen Klangdimensionen eines „spätest“- und postromantischen Symphonieorchesters (etwa in den Konzerten von Rachmaninoff, Scriabin, Pfitzner, Reger und vielleicht auch schon im 2. Klavierkonzert von Brahms) sowie der Musik des 20. Jahrhunderts ist ein moderner Konzertflügel eher gewachsen.
Jede Instrumentenbauweise hat ihre spezifischen Grenzen: Einer der Gründe, warum ich in Aufnahmen und Konzerten neben Instrumenten moderner Bauart gern auf einen meiner 3 Erard- Flügel zurückgreife. Eine immer größer gewordene Anzahl von Musikern, Instrumentenbauern und Musikliebhabern verbindet mit dem Namen Erard einen essentiellen Abschnitt europäischer Musik- und damit auch Kulturgeschichte. Sollte es nicht als Zeichen gewertet werden, dass sich bereits ein Erard-Fanclub, ein Forum regen Gedankenaustausches, gebildet hat, der zudem Informationen über Instrumente, CD-Aufnahmen, Konzerte und Komponisten bereitstellt. Erwähnt seien überdies die zunehmende Verbreitung und liebevolle Pflege von Erard-Instrumenten, diesen Zeitzeugen eines vielgestaltigen, lebendigen, gleichzeitig der Historie wie der Zukunft zugewandten Jahrhunderts, einem Jahrhundert, dessen Prägungen noch in der Jetztzeit bedeutungsvoll sind. Aus dem Vergangenen das Zukunftsweisende zu entwickeln, mag denn auch als ein Motto meiner Kunstauffassung genannt sein.

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Die drei Instrumente

I. Erard aus dem Jahre 1858

Erard3-1024x1024Dieser Erard Flügel demi-queue aus dem Jahre 1858, (Fabrikationsnummer 30990, ehemals in der Klaviersammlung von Gert Hecher, Wien) zeichnet sich durch ein nahezu orchestrales Klangspektrum und eine besonders variable Modulationsfähigkeit seines vollen, runden Tons aus. Er eignet sich deshalb besonders für Werke von Franz Liszt, der schon als Dreizehnjähriger einen Erard besaß. Auch die Klavierwerke von Johannes Brahms haben in diesem Flügel einen kongenialen Partner. Brahms, der gerne auf einem Erard-Konzertflügel in Basel konzertierte, bedauerte es außerordentlich, dass man ihm für die Hamburger Erstaufführung seines Klavierkonzerts in d-moll das seiner Meinung nach beste Fortepiano der Stadt, einen Erard Grand Modèle nicht zur Verfügung stellte. Bleibt noch auf einige bedeutende französische Komponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts hinzuweisen, die sich gleichfalls vom Tonspektrum eines Erard inspirieren ließen (Franck, Fauré, Ravel etc.) und natürlich auf Richard Wagner, dessen Erard (Fabrikationsnummer 30320) gleichfalls dem Jahr 1858 entstammt.
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II. Erard aus dem Jahre 1847

Erard5Das 1847 für die berühmte französische Sängerin (Sopranistin) Céleste Nathan-Treillet gebaute Instrument (Fabrikations-nummer 19436, ehemals in Privatbesitz), ist in seiner ihm eigenen Feinheit und Nuanciertheit des Klanges besonders für die Aufführung von Liedern und Liederzyklen sowie Kammermusik und Klavierwerken intimeren Zuschnitts geschaffen. Die berühmten Komponisten Hector Berlioz und Giacomo Meyerbeer haben des Öfteren auf diesem Piano demi queue musiziert. Übrigens konnte César Franck dasselbe Erard-Modell (Fabrikationsnummer 14742) sein Eigen nennen.

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Céleste Nathan-Treillet, 1815-1873

III. Erard grand-modèle aus dem Jahre 1840

Erard7Endlich sei auf den Konzertflügel des Jahres 1840, (Seriennummer 14892, ehemals im Maison Erard – Frits Janmaat), verwiesen, dessen Klangmöglichkeiten in die Welt Schumanns, Chopins und Mendelssohns führen können. Aber auch die späteren Werke Beethovens sind dieser Atmosphäre schon nahe. In diesem Zusammenhang sei erwähnt, dass mit dem Eintreffen eines Erard-Flügel beim Komponisten im Jahre 1803 dessen revolutionär- orchestraler wie auch kammermusikalisch-differenzierter Klavierstil seiner mittleren und späten Klavier- und Klavier-Kammermusikwerke seinen Ausgang nahm. Mendelssohns Klaviertechnik beruhte übrigens nicht zuletzt auf seinem täglichen Umgang mit dem eigenen Erard, dessen Möglichkeiten auch seinen Freund Schumann beeinflusst haben mögen. Chopin endlich spielte oft auf Erard- Instrumenten, behauptete gar, dass der Erard es einem Pianisten leicht mache, da der Klang dieses Instrumentes auch ohne großes Zutun perfekt, reich und schön wäre.
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Hector Berlioz: Der verrückt gewordene Flügel

(ein Erard Grand-Piano für die Weltausstellung London 1851)
Die Prüfungen am Konservatorium haben begonnen. Am ersten Tag nahm Herr Auber, um gleichsam den Stier bei den Hörnern zu fassen, die Klavierklassen vor. Die unerschrockene Jury, die beauftragt war, die Preisbewerber zu hören, vernimmt ohne merkliche Erregung, dass es 31 an der Zahl sind, 18 Damen und 13 Herren. Für den Wettstreit ist das g-Moll-Konzert von Mendelssohn gewählt. Wenn also nicht etwa einen der Kandidaten während der Sitzung der Schlag rührt, so wird das Konzert 31 Mal hintereinander gespielt, das weiß man. Was man aber noch nicht weiß, und was ich selbst vor wenigen Stunden noch nicht wusste…, das hat mir heute morgen ein Pedell des Konservatoriums erzählt: „ Ach! Der arme Erard!“ sagte er, „so ein Unglück.“ „ Erard?, was ist ihm passiert?“ „ Wie, waren Sie denn nicht bei der Klavierprüfung?“ „ Nein, was ist denn geschehen?“ „Denken Sie sich nur, Herr Erard war so liebenswürdig uns für den Tag einen prachtvollen Flügel zu leihen, den er eben fertiggestellt hatte und den er zur Weltausstellung nach London schicken wollte… Eine herrliche Tonfülle, noch nie gehörte Gewalt der Bässe, kurz ein ganz außergewöhnliches Instrument. Nur die tasten gingen ein bisschen schwer, aber gerade deswegen hat er ihn uns geschickt. Erard hatte sich gesagt: wenn die 31 Schüler ihr Konzert heruntertrommeln, werden sie die Tasten meines Flügels schon aufmuntern, und das kann ihm nur gut tun… Der erste Schüler erscheint also, und da er findet, dass der Flügel ziemlich schwer geht, greift er ihn kräftig an, um Ton herauszuholen. Der zweite ebenso. Beim dritten sträubt sich das Instrument nicht mehr so sehr; beim fünften noch weniger. Wie es der sechste gefunden hat, weiß ich nicht; in dem Augenblick, da er auftrat, musste ich für einen unserer Herren Preisrichter, dem schlecht geworden war, ein Fläschchen Äther holen. Als ich zurückkehrte, war der siebente gerade fertig, und wie er vom Podium kam, hörte ich ihn sagen: ´Der Flügel geht ja gar nicht so schwer; im Gegenteil, ich finde ihn ausgezeichnet, in jeder Hinsicht vollkommen.´ Die zehn bis zwölf folgenden Bewerber waren derselben Ansicht; die letzten behaupteten sogar, dass der Anschlag nicht nur nicht zu schwer, sondern vielmehr zu leicht sei. Gegen dreiviertel auf drei waren wir bei Nr. 26 angelangt, um zehn Uhr hatte man angefangen; an der Reihe war Fräulein Hermence Lévy, der schwergehende Klaviere ein Greuel sind. Sie konnte sich´s also gar nicht besser wünschen; sie hat uns denn auch das Klavier so leichtfing´rig heruntergespielt, dass sie glatt den 1. Preis bekam. Wenn ich sage ´glatt´, so ist das nicht ganz richtig: sie hat ihn mit Fräulein Vidal und Fräulein Roux geteilt. Auch diesen beiden Damen kam die Leichtigkeit der Klaviatur zustatten; sie fing sich schon zu bewegen an, wenn man sie bloß anhauchte. Ist jemals so ein Flügel gewesen? Als Nr. 29 vorspielte, musste ich wieder fort, um einen Arzt zu holen; ein anderer Preisrichter hat einen bedenklich roten Kopf bekommen und musste notwendig zur Ader gelassen werden. Ja, die Klavierprüfung ist kein Spaß, und als der Arzt kam, war es höchste Zeit. Wie ich in den Saal zurückkehre, sehe ich Nr. 29, den kleinen Planté, ganz bleich von der Bühne kommen; er zitterte am ganzen Leibe und sagt: Ich weiß nicht, was mit dem Flügel ist, aber die Tasten bewegen sich ganz von selbst, wie wenn jemand drin säße, der die Hämmer anstößt. Ich fürchte mich.´ Ach Unsinn, mein Junge, du redest dir etwas ein´, antwortete der kleine Cohen, der drei Jahre älter ist. ´Lass mich durch, ich fürchte mich nicht.´ Cohen (Nr. 30) geht hinein; er setzt sich an den Flügel, ohne die Klaviatur anzusehen, spielt sein Konzert sehr gut, und nach dem letzten Akkord, wie er eben aufsteht – fängt da nicht der Flügel das Konzert ganz allein wieder von vorne an?! Der arme junge Mensch hatte vorher den Helden gespielt; aber jetzt, nachdem er einen Augenblick versteinert gestanden hatte, lief er davon, so schnell er nur konnte. Der Flügel, dessen Ton von Minute zu Minute stärker anschwillt, lässt sich nicht stören und spielt seine Tonleitern, Triller und Arpeggien herunter. Das Publikum, das niemand am Instrument sieht, gerät überall im Saal in Bewegung. Nur ein Preisrichter, der hinten aus seiner Loge die Bühne nicht sehen konnte, …schrie sich die Lungen aus: ´Genug, genug, lassen Sie Nr. 31, den Letzten kommen.´ Wir mussten es ihm erst zurufen: Es spiele niemand, der Flügel hat sich an das Mendelssohnsche Konzert gewöhnt und trägt es ganz allein…vor. Sehen Sie doch nur!…´ Wir suchten nach Herrn Erard. Währenddessen wurde dieser niederträchtige Flügel mit seinem Konzert fertig und fing es wieder von vorn an, attacca, ohne eine Minute zu verlieren, und so immerfort, immerfort mit größerem Lärm, als wären es vier Dutzend Klaviere im Unisono; Läufe, Tremolos, Passagen in Sexten und Terzen mit verdoppelter Oktave, zehnstimmige Akkorde, dreifache Triller, ein Platzregen von Tönen, das Pedal, der Teufel und seine Großmutter. Herr Erard erscheint; umsonst, der Flügel, der ganz von Sinnen ist, will sich auch seiner nicht entsinnen. Er lässt Weihwasser bringen und besprengt die Tasten damit, keine Wirkung; ein Beweis, dass keine Zauberei im Spiele sondern dass es eine natürliche Folge der dreißig Wiederholungen eines und desselben Konzertes war. Das Instrument wird auseinandergenommen, die Klaviatur, die noch immer auf- und niedergeht, herausgehoben und mitten in den Hof der Gerätekammer geworfen, wo der wütende Erard sie mit Beilhieben zerschlagen lässt. Leicht gesagt! Nun war´s noch schlimmer, jedes Stück tanzte, hüpfte, zappelte für sich, auf den Pflastersteinen, zwischen unseren Beinen hindurch, an der Mauer empor, überall und so toll, dass endlich der Schlosser der Gerätekammer die ganz verrückt gewordenen Mechanik zusammenraffte und sie in sein Schmiedefeuer warf, um der Sache ein Ende zu machen. Armer Erard! Ein so schönes Instrument! Es schnitt uns allen ins Herz.“